"Geschichte des Westens" - So westlich wie nie zuvor
Ein Werk mit einem derart umfassenden Ansatz gab es bisher nicht: Heinrich August Winklers "Geschichte des Westens" stellt nun in ihrem dritten Band die politische Weltgeschichte seit 1945 dar. von Ulrich Herbert
DIE ZEIT Nº 39/2014, 18. September 2014 08:00 Uhr
Mit dem dritten Band seiner Geschichte des Westens legt Heinrich August Winkler nur drei Jahre nach Erscheinen des vorherigen Bandes ein voluminöses Grundlagenwerk vor: Es trägt zwar die Geschichte des "Westens" im Titel, ist in Wahrheit aber eine politische Weltgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Winkler behandelt die politische Entwicklung der wichtigsten westlichen Länder, in Sonderheit der USA, Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und der Bundesrepublik; aber auch derjenigen des Ostblocks, insbesondere der Sowjetunion sowie Chinas. Er verfolgt die Etappen des Kalten Kriegs in Europa, Asien, Afrika und Lateinamerika und setzt sich ausführlich mit den Prozessen und Konflikten der Dekolonialisierung und der damit verbundenen großen Krisen in diesem Zeitraum auseinander.
Winkler beschreibt die wichtigsten transnationalen Prozesse: den Wirtschaftsboom und die sich ausbreitenden Konsumgesellschaften in den 1950er und 1960er Jahren, den Aufstieg der Europäischen Gemeinschaft, die Entwicklung des Weltwährungssystems von Bretton Woods über die Ablösung des Dollars als globale Leitwährung bis zu den Entschlüssen über die europäische Einheitswährung. Er untersucht die Ölpreiskrisen mitsamt den Auswirkungen auf die Länder des Westens, des Ostblocks und der "Dritten Welt", den inneren Zerfall des Sowjetimperiums und schließlich die Epochenscheide von 1989/91. In diesem Band werden tatsächlich nahezu alle wichtigen politischen Entwicklungen zwischen 1945 und 1990 behandelt. Ein Werk mit einem derart umfassenden Ansatz gab es bislang nicht, und so steht man nach der Lektüre erschöpft, aber voller Bewunderung vor diesem Berg an Wissen und Gelehrsamkeit.
Die titelgebende Perspektive des "Westens" ist anhand der ersten beiden Bände mehrfach kritisch kommentiert worden: als "unhistorische Kategorie ex post", durch die der kurze "historische Moment, als Westeuropa und die anglofonen ›Neo-Europes‹ den Globus dominierten, zum weltgeschichtlichen Maßstab aller Dinge" gemacht werde (Jürgen Osterhammel).
Das mag zutreffen – für die hier behandelte Phase besitzt dieser Maßstab als Auswahlinstrument jedoch einige Plausibilität, denn "nie zuvor", so betont Winkler, hatte "der transatlantische Westen so sehr eine Einheit gebildet wie in den viereinhalb Jahrzehnten zwischen 1945 und 1990". Seinen Ansatz hat er bereits in den vorangegangenen Bänden ausführlich erläutert: Ausgangspunkt ist das "normative Projekt des Westens", bezogen auf die Ideen der Amerikanischen und der Französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts mitsamt den dabei herausgebildeten Postulaten von Gewaltenteilung, Rechtsstaat, demokratischer Kontrolle und der Verwirklichung der Menschenrechte.
Diese Postulate bildeten in den Staaten des "Westens" eine zwar stets umstrittene und nie wirklich ganz eingelöste, aber doch wirksame Verpflichtung – anders als in jenen Staaten, in denen ein solcher Bezug fehlte. Dieser spezifische Zugriff, der von den Widersprüchen oder Lücken zwischen Norm und Wirklichkeit in den westlichen Gesellschaften ausgeht, kennzeichnet das Gesamtwerk. Auch im vorliegenden Band lässt er sich nicht vollständig durchhalten. Zwar kommt der Autor immer wieder darauf zurück, aber seine Darstellung wird davon nicht beherrscht. Das ist von Vorteil, denn so vermeidet er ideologische Engführungen und kann auch solchen Prozessen Raum geben, die in sein Frageschema nicht hineinpassen.
Diese vom Westen ausgehende Perspektive darf nicht mit einer unkritischen Haltung verwechselt werden, im Gegenteil. Die Kritik des Autors an den westlichen Staaten und Gesellschaften ist jedenfalls viel ausgeprägter als die an nichtwestlichen Ländern. Winkler geht hier nicht anders vor als die "Post-Adenauerschen Linken", die mit großer Inbrunst gegen die USA, aber nie gegen die Sowjetunion demonstrierten, eben weil sie die Amerikaner wie selbstverständlich an jener Norm von Menschenrechten maßen, die der Westen für sich reklamierte, während sie von einer solchen Orientierung bei kommunistischen Politikern oder afrikanischen Despoten nie ausgegangen wären.
Und so schildert Winkler insbesondere das Vorgehen der Westmächte gegenüber der sich emanzipierenden "Dritten Welt" mit kühler Präzision, lässt kaum ein Massaker, keinen "Befriedungsfeldzug" aus. Die brutalen Polizeiaktionen der Niederländer in Indonesien beschreibt er ebenso wie die Umstände des britischen Rückzugs aus Indien mit den Hunderttausenden von Toten aufseiten der Hindus wie der Muslime oder die Kolonialverbrechen der Franzosen in Vietnam, Algerien und Schwarzafrika.
Sein Resümee: "An die Regeln der humanitären Kriegsführung und an die Europäische Menschenrechtskonvention fühlten sich die Briten genauso wenig gebunden wie die Franzosen in Algerien. Ein kolonialer Notstand galt in Großbritannien nicht anders als in Frankreich als rechtsfreier Raum. An den normativen Werten des Westens hielten London und Paris grundsätzlich fest – in der Praxis aber nur, soweit sie es mit sogenannten ›zivilisierten‹ Völkern zu tun hatten."
Die USA hingegen werden als ursprünglich streng antikolonialistische Macht beschrieben, die sich jedoch durch die Verknüpfung der Dekolonialisierung mit dem Kalten Krieg immer stärker mit den alten europäischen Kolonialmächten oder blutrünstigen Diktaturen verband. Ob in Vietnam, in Indonesien, Angola oder später in Chile: "Die übergeordneten Interessen des Westens und der USA im Kalten Krieg bestimmten die Position, die Amerika gegenüber antikolonialen Bewegungen einnahm."
Diese Weltgeschichte des "Westens" gewinnt ein spezifisches Profil, aber auch eine gewisse Spannung dadurch, dass sie konsequent, manchmal geradezu manisch chronologisch strukturiert ist. So wird der französische Krieg in Algerien in fünf Kapiteln immer wieder erneut aufgenommen. Auch die innere Geschichte der großen Länder des Westens ist über die zeitlich geordneten Kapitel verteilt. Man kann aus diesem Buch, quer gelesen, auch mehrere Einzelmonografien zur Geschichte Frankreichs oder Italiens, des Kalten Krieges oder der Dekolonialisierung herausdestillieren.
Aber gerade diese extreme Gleichzeitigkeit der Anordnung, die auch solche Ereignisse und Entwicklungen direkt nebeneinanderstellt, die man in stärker thematisch angelegten Werken weit voneinander getrennt finden würde, macht den besonderen Reiz dieses Buches aus. So behandelt Winkler auf den Seiten 280 bis 357 folgende Themenvielfalt: Chruschtschows Berlin-Ultimatum vom November 1958; die Entstehung der Kubakrise, das beginnende Engagement der Amerikaner in Vietnam, den Putschversuch der Militärs in Frankreich und das Godesberger Programm der SPD; dann die Genfer Zehnmächtekonferenz, den Streit zwischen der UdSSR und China, die Wahl Kennedys zum Präsidenten, die UN-Erklärung über die Unabhängigkeit der kolonialen Länder, die Prozesse der Dekolonialisierung in der Elfenbeinküste und anderen westafrikanischen Ländern, den Fortgang der Algerienkrise, die Unabhängigkeit der ehemals britischen Kolonien, die Entwicklung in Belgisch-Kongo, die Kämpfe in Angola und Mosambik, die Resonanz auf Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde bei den westlichen Intellektuellen; sodann die Rassenunruhen in den USA, die Entwicklung in Lateinamerika, die amerikanische Invasion in der kubanischen Schweinebucht, den Beginn der Weltraumflüge, die Krise in Berlin bis zum Mauerbau, das Ende der Ära Adenauer in Westdeutschland mitsamt Spiegel- Affäre und die Fischer-Kontroverse.
Alle Themen, die wechselseitig aufeinander einwirken und ineinander verflochten sind, werden mit der gleichen Präzision und Schnörkellosigkeit erzählt, die den Autor auszeichnen. Man kann sich dem Sog der Darstellung nur schwer entziehen. Natürlich führt diese synchronoptische Sichtweise bei allen Vorteilen auch zu einer gewissen Zerrissenheit. Zeitlich übergreifende Entwicklungen sind auf diese Weise vertiefend schwer zu analysieren – etwa die weltweit stetig zunehmenden Migrationsprozesse, welche die westlichen Gesellschaften seit den siebziger Jahren so tiefgreifend verändert haben, aber auch sozial-kulturelle Trends wie die Wandlungen in den Geschlechterbeziehungen oder die Liberalisierung in Erziehung und Rechtsprechung. Manches wird angesprochen, aber es bleibt unklar, warum sich in diesen Jahren solche grundstürzenden Veränderungen vollzogen, und zwar in den meisten europäischen Ländern nahezu gleichermaßen, wenngleich mit zeitlichen Verschiebungen.
Und wie hängen diese Veränderungen miteinander zusammen? Winklers Hinweis auf den "Wertewandel" ist da eher Teil der Frage als der Antwort. Sind denn Dienstleistungsgesellschaften per se liberaler als industriell geprägte? Mit Blick auf die innere Entwicklung der USA seit einigen Jahrzehnten wird man da Zweifel anmelden. Führt die Globalisierung der Wirtschaft zu einem friedlicheren Zusammenleben der Völker? Die gegenwärtige Weltlage deutet eher auf das Gegenteil hin. Ist der Zusammenbruch der Sowjetunion vorrangig als Teil, als "Epiphänomen" der Krise der Weltwirtschaft seit den siebziger Jahren zu verstehen? Winkler nennt eine solche These zornig "vulgärmarxistisch", aber liest man seine Darstellung genauer, dann sieht er eben doch hier die treibenden Faktoren der Implosion des Sowjetreiches.
Dieser Band ist nicht diskursiv angelegt, der Autor wägt nicht ab, probiert keine Theorien aus, sucht nicht nach Widersprüchen und offenen Fragen – er konstatiert. Das macht das Buch in manchen Passagen etwas lexikalisch. Zugleich aber ist es erfrischend altmodisch, denn es verfällt nicht in die in der Geschichtswissenschaft ebenso beliebte wie kurzatmige Begeisterung für bestimmte "Turns" oder Theorien. Es berichtet in bestechender Klarheit über die Geschehnisse und verdichtet sie zu Geschichte – ein faszinierendes Panorama der globalen Politikgeschichte, wie man es von einem einzelnen Autor sonst wohl nirgends finden kann.